Noten machen es auch nicht besser

Noten sollen mir als Schüler ein Feedback zu meiner Leistung geben. Soweit die Theorie. In der Schule lenken sie aber vor allem vom Lernen ab

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Statt hilfreicher Leistungsanalyse bedeuten Noten vor allem emotionale Selektion
Statt hilfreicher Leistungsanalyse bedeuten Noten vor allem emotionale Selektion

Foto: Dirk Vorderstraße/Flickr (CC BY 2.0)

„Können wir heute Notenbesprechung machen?“ Eine Frage, die sich besonders vor den Ferien wachsender Beliebtheit erfreut. Neben dem Interesse zu erfahren, was man für die Mühen der letzten Monate bekommen wird, entsteht der Wunsch nach Notenbesprechungen oft aus ganz pragmatischen Gründen. Denn da der Lehrer für dieses Prozedere gewöhnlich den Raum verlässt, fällt der Unterricht der betroffenen Stunde flach. Aus der geselligen Heiterkeit im Klassenraum wird schnell eine angespannte Stimmung, wenn man selbst an der Reihe ist. Draußen angekommen beginnt der Lehrer meist mit einem Resümee der erbrachten Leistungen, um daraufhin jene Ziffer zu verraten, die von „sehr gut“ bis „ungenügend“ den Erfolg des vergangenen Halbjahres absteckt.

Abhängig von der genannten Note gibt es nun verschiedene Möglichkeiten der Reaktion: Der Klassiker ist sicherlich der spontane Heulkrampf. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass der Lehrer den Emotionen erliegt und die betrübende Note aufbessert. Eine weitere Möglichkeit liegt im Notenhandel. Wie auf dem Basar kann hier durch kluges Argumentieren die Bilanz aufgebessert werden. Manchmal sind solche Optimierungsversuche aber auch gar nicht nötig. So kommt es mitunter sogar vor, dass man nicht von schlechtem, sondern positivem Feedback überrascht wird. Froh über die unverhoffte Einschätzung, schämt man sich beinahe für Leistungen, von denen der Lehrer mehr weiß als man selbst.

Doch was steckt eigentlich hinter diesem Trubel um die Noten und wozu sollen sie dienen? Offensichtlich sollen sie die schwierige Frage nach dem Lernerfolg möglichst einfach beantworten. Dabei dient das Zeugnis als Feedback, an dem die Schüler erkennen können worin sie gut sind und woran sie noch arbeiten sollten. Soweit die Theorie. Aus der Schülerperspektive sieht es allerdings anders aus. Statt hilfreicher Leistungsanalyse bedeuten Noten vor allem emotionale Selektion.

Grundlage hierfür ist ein Bewertungssystem, das seinen Maßstab dem Vergleich verdankt. Was wäre die Eins in Englisch noch wert, wenn sie jeder haben könnte? Ein solches System besitzt keinen Eigenwert: Ob „sehr gut“ oder „ungenügend“ hängt in erster Linie vom Umfeld ab, in dem der Vergleich entsteht. Dieser Gedanke lässt sich auf den Vergleich zwischen Schulen und Ländern erweitern. Die PISA-Studien sind wahrscheinlich das beste Beispiel. PISA ist der aufwendige Versuch, Schulleistungen international zu vergleichen. Wirft man einen Blick auf die Ergebnisse, wird erkennbar, dass nahezu in allen Disziplinen (Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenzen) die ostasiatischen Länder einsame Spitzenreiter sind, während Deutschland im oberen Mittelfeld rangiert. Nun brauche ich nicht viel Fantasie, um mir vorzustellen, wie ich vom guten Schüler in Deutschland zum leistungsschwachen Problemfall in Peking werden würde. Schon deshalb, weil der chinesische Schultag durchschnittlich über acht Zeitstunden dauert, während selbst deutsche Ganztagsschulen nicht an diesen Wert herankommen. Ob man nun als guter oder schlechter Schüler gilt, hängt primär vom Umfeld ab, innerhalb dessen die Bewertung entsteht.

Das wesentliche Problem der Noten zeigt sich allerdings erst darin, dass sie die ultimative Kennziffer des Erfolgs geworden sind. Man muss sich nur ihren Stellenwert im Leben des einzelnen Schülers vergegenwärtigen, um ihre überragende Bedeutung zu verstehen: Bereits innerhalb der Klassengemeinschaft beeinflusst der Notenschnitt, ob man als brillentragender Streber oder mieser Bad-Boy gilt. Außerhalb der Schule setzt sich diese Einordnung fort. Egal ob es die Frage der Eltern nach den letzten Klausurergebnissen ist, die Meinung der Großeltern über die Tüchtigkeit ihrer Enkel oder der Notenschnitt des Abschlusses, mit dem man in die Arbeitswelt entlassen wird: Noten sind die universale Antwort auf die Frage, was man Vormittags in seinem Leben geleistet hat. Zuletzt übernimmt auch der Schüler diese Maßstäbe und bestimmt seine Leistungen, Fähigkeiten und schlimmstenfalls einen Teil seines Selbstwerts anhand seiner Noten.

Es ist offensichtlich, dass dies eine unabhängige Einschätzung des persönlichen Lernerfolgs erschwert. Den Wert einer Leistung gibt das System mit seinen Bewertungskriterien vor und nicht der Lernende selbst, da seine Meinung keinen messbaren Einfluss hat. Aus Noten, die konstruktiver Rückmeldung dienen sollten, ist eine missverstandene Selektionsmaschinerie geworden, die den Wert der Lernleistung bestimmt. Wie soll dabei ein nachhaltiges Selbstvertrauen in das eigene Lernen entstehen, wenn uns die Noten mit ihrer universellen Macht bevormunden? Anstelle eines Gefühls für die eigenen Stärken und Schwächen tritt eine Hörigkeit gegenüber einer Ziffer und den Propheten, die sie verkünden. Wenn in der dreizehnten Klasse noch gefragt wird, ob man das ausgeteilte Arbeitsblatt mit dem Textmarker markieren darf, das Datum auf der Klausur links oder rechts zu stehen hat, oder welche Farbe der Fachordner haben soll, verdeutlicht dies die Abgabe des eigenen Verstands am Eingang des Schulgebäudes. Statt selbständig einzuschätzen, was wichtig ist, folgen viele von uns blind den Strukturen, die sich für das Zeugnis am lohnendsten herausgestellt haben. Und wenn es die Farbe des Hefters ist …

Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch "13 Jahre Schule statt Bildung", das seit Beginn des Jahres im Handel erhältlich ist.

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