Arbeiten sie wirklich zu viel? – Seite 1

Wenn um fünf vor sechs der Wecker von Jens Finger klingelt, wacht er auf und freut sich. Finger unterrichtet Deutsch und Geografie an der Alexander-von-Humboldt-Schule, einem Gymnasium in Neumünster in Schleswig-Holstein. Er denkt dann nicht an den Stress, den die Abiturprüfungen bedeuten, und auch nicht an die Organisation der nächsten Klassenfahrt. Er denkt: "Ach, super, gleich hab ich die 8e, was steht heute auf dem Plan? Afrika? Ach, prima." 

Finger empfindet seinen Beruf als bereichernd, liebt es, junge Menschen in ihrem Werdegang zu begleiten und zu fördern, mit ihnen zu arbeiten und sich ihr Vertrauen zu erarbeiten. Als Finger sein erstes Schulpraktikum absolvierte, war er vor Aufregung ganz kribbelig, endlich vor einer Klasse stehen zu dürfen. Im Jahr 2009 beendete er sein Referendariat, seitdem ist er Lehrer aus Leidenschaft. Doch er kennt auch die negativen Seiten dieses Jobs: permanenter Druck, permanente Anspannung, Überstunden, immer neue Anforderungen – bis hin zur Überforderung.

Für eine neue Studie protokollieren Lehrer aller 16 Bundesländer, wofür sie ihre Zeit aufwenden

Um den landesspezifischen, aber auch den bundesweiten Problemen des Lehrerberufs auf die Spur zu kommen, wurde dieses Jahr vom Bundesverband der Philologen eine Studie mit dem Titel Lehrerarbeit im Wandel in Auftrag gegeben. Lehrer aller 16 Bundesländer protokollieren in einem von den Landesverbänden selbst festgelegten Zeitraum vier Wochen lang minutiös, wofür sie ihre Zeit aufwenden – und vor allem wie viel. Die Ergebnisse für das gesamte Bundesgebiet wie auch für die einzelnen Bundesländer werden in Zusammenarbeit mit dem Institut für Präventivmedizin an der Universität Rostock ausgewertet und sollen im Herbst veröffentlicht werden.

Reguläre Unterrichtsstunden, Vertretungsstunden, Pausenaufsicht, Vorbereitung, Nachbereitung, Korrekturen, Gespräche mit Eltern, mit Schülern, mit Kollegen: Alles wird aufgeschrieben und zusammengerechnet. Das Ergebnis unterm Strich? Jens Finger hat von Mitte Januar bis Mitte Februar für die neue Studie Protokoll geführt und erzählt: "44 Stunden war meine niedrigste Wochenarbeitszeit, 51 Stunden die höchste." Vorgesehen sind für Beamte eine Arbeitszeit von maximal 40 bis 42 Stunden pro Woche. Viele seiner Kollegen kämen jedoch ebenfalls auf über 50 Stunden, sagt er. Für Finger, der neben seiner Unterrichtstätigkeit auch Hauptpersonalrat für Gymnasiallehrer und seit März Vorsitzender des Philologenverbandes Schleswig-Holstein ist, steht fest: Das ist zu viel. "Ich habe geahnt, dass die Zahlen hoch ausfallen werden, doch von dieser Höhe war ich überrascht." Die Arbeitszeitstudie fänden er und seine Kollegen daher gut.

Im Referendariat war für Finger vor allem der Druck präsent, durch gute Noten möglichst bald eine feste Anstellung zu bekommen. Mit der festen Anstellung aber verschärfte sich das Gefühl, ständig unter Strom zu stehen. Die erste Oberstufenklausur entwerfen und korrigieren, das erste Mal mündliche Abiturprüfungen vorbereiten und abnehmen: Auch wenn all dies längst Normalität für Finger geworden ist, verspürt er den Stress jedes Mal neu. "Die Belastung tritt für Lehrer häufig in Intervallen auf", erklärt Finger. "Nämlich immer dann, wenn etwas außerhalb des Unterrichtsalltags ansteht – der Unterricht ja aber trotzdem weiterlaufen muss."

Lehrer sind besonders gefährdet für Burn-out

Zu welchen gesundheitlichen Problemen diese Belastung führen kann, weiß Gisela Betz-Klöpfer von der Parkklinik Heiligenfeld. Die Bad Kissinger Klinik für psychische Erkrankungen bietet spezielle Behandlungskonzepte für Lehrer an – eine besonders gefährdete Berufsgruppe für Burn-out, wie Betz-Klöpfer erklärt. "Heute werden Lehrer mit so vielen neuen Aufgaben konfrontiert, für die sie nicht ausgebildet sind, ohne Unterstützung im Unterricht, ohne Anleitung von außen", so Betz-Klöpfer, die in Gesprächen mit ihren Patienten von diesen Problemen erfährt. Insbesondere Lehrer jenseits der 50 seien mit Herausforderungen wie denen der Inklusion schlicht überstrapaziert.

"Es hat sich viel verändert in der Schullandschaft", stellt auch Jens Finger fest, wenn er mit älteren Kollegen spricht. Und wenn man die Lehrer selbst fragt: eher nicht zum Guten. "Die Schülerschaft wird zunehmend heterogener", erklärt Finger. Die Tendenz sieht er unter anderem darin begründet, dass es in einigen Bundesländern, wie auch in Schleswig-Holstein, momentan keine verpflichtende Schulartempfehlung an Grundschulen gibt. Für Gymnasiallehrer aber bedeute das: Wenn die Klasse eine Aufgabe erledigen soll, braucht es immer ein oder zwei Zusatzaufgaben für die Schüler, die schneller sind als die übrigen. "Sonst ist der eine fertig und der andere hat noch nicht mal angefangen", so Finger. Die Vorbereitungszeit für jede Klasse, für jede Unterrichtsstunde verlängere sich dadurch automatisch.

Sieben Schulstunden ohne Freistunde

Der Unterschied zwischen den Leistungen sei enorm. Ihm täten die Schüler leid, die gleich beim ersten Geo-Test eine Sechs kassierten, und er fordert: "Nicht eine Schule für alle, sondern für alle die richtige Schule." So wie er denken viele Lehrer. Darum erlebt die Grundschulempfehlung in manchen Ländern gerade eine Wiedergeburt, zum Beispiel in Baden-Württemberg. In Bayern ist die Empfehlung längst verbindlich und auch in Schleswig-Holstein wird die Wiedereinführung nun diskutiert.

"In den letzten 20 Jahren wurde in den Gymnasien aller Bundesländer zunehmend die immense Belastung beklagt."
Susanne Lin-Klitzing, Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbands

Dass Schule nicht mehr dasselbe bedeutet wie vor 20, 30 Jahren, sieht auch Susanne Lin-Klitzing, Professorin für Pädagogik an der Universität Marburg und Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbands. "In den letzten 20 Jahren wurde in den Gymnasien aller Bundesländer zunehmend die immense Belastung beklagt", erklärt sie. Aus ihrer Sicht ist eine solche umfassende Studie daher überfällig. "Es ist schon lange nötig, dass die Kultusministerkonferenz eine wissenschaftliche, von einem unabhängigen Institut durchzuführende Untersuchung zur Lehrerarbeitszeit in Auftrag gibt, um der tatsächlichen Arbeitsbelastung von Lehrkräften Rechnung zu tragen", erklärt Lin-Klitzing. Da diese Forderung der Philologen bisher nicht erfüllt wurde, hat der Verband die Sache nun selbst in die Hand genommen.

Gemäß dem Titel der Studie Lehrerarbeit im Wandel gehe es vor allem darum, die Veränderungen im Lehrerberuf sichtbar zu machen, den sich daraus eventuell ergebenden gesundheitlichen Folgen für die Lehrkräfte auf die Spur zu kommen – und durchaus auch darum, ihnen mehr Anerkennung für ihre Arbeit zu verschaffen. "Von Lehrerinnen und Lehrern wird zunehmend erwartet, dass sie Defizite in der häuslichen Erziehung kompensieren, dass sie vielfältige Medien bei nur unzureichender Grundausstattung einsetzen, Aufgaben wie inklusive Beschulung und Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund wahrnehmen", so Lin-Klitzing. Weitere Probleme seien das hohe Regelstundenmaß, die hohen Klassen- und Kursgrößen und die Streichung bzw. Kappung der Altersermäßigung. All diese zusätzlichen Belastungen und Anforderungen hätten Auswirkungen auf die Arbeitszeit. Welche Auswirkungen genau, das sollen die Ergebnisse der Lehrerprotokolle zeigen.

Bei Lehrern wird unterschieden zwischen der reinen Unterrichtszeit, den zu unterrichtenden Stunden also, die je nach Bundesland und je nach Voll- oder Teilzeitbeschäftigung festgelegt sind, und der Arbeitszeit, die neben dem Unterricht sämtliche Vorbereitungen, Korrekturen, Elterngespräche und andere Aufgaben umschließt – und für die das Limit in der Praxis nach oben offen ist. Insgesamt sollen sie aber auf nicht mehr als 42 Wochenstunden kommen. Die reine Unterrichtszeit von Gymnasiallehrern liegt in Schleswig-Holstein, wo Jens Finger arbeitet, mit wöchentlich 25,5 Stunden im oberen Bereich. Doch auch in Ländern mit vergleichsweise geringer Unterrichtszeit bleibt es für die meisten nicht bei der für Beamte vorgesehenen Arbeitszeit von 40 bis 42 Stunden pro Woche. In Rheinland-Pfalz wurde ebenfalls bis Mitte Februar protokolliert. Bettina P. ist Oberstudienrätin eines Gymnasiums in der Vorderpfalz und mitverantwortlich für die Unterrichtsplanung ihrer Schule. "Die aktuellen 24 Unterrichtsstunden bei uns in Rheinland-Pfalz sind das Maximum, das ein Vollzeitlehrer verkraften kann", findet sie. Um in Stresszeiten wie beim Abitur die Belastung besser verteilen zu können, würden viele Lehrer freiwillig reduzieren.

Einige Lehrer arbeiten nur noch Teilzeit

So auch P. selbst. Sie arbeitet in Teilzeit und verzichtet auf einen Teil ihres Gehalts, weil ein voller Lehrauftrag dazu führe, dass die Unterrichtsqualität sich erheblich verschlechtere. An ihrer Schule mit gut 1.000 Schülern und 80 Lehrern sei nur noch ungefähr ein Drittel aller Stellen in Vollzeit besetzt. Das mache die Unterrichtsplanung kompliziert. P. sagt: "Ein Vormittag mit sechs Stunden am Stück ist extrem belastend. Und für den Austausch mit Schülern und Kollegen bleibt dabei gar keine Zeit."

Aufgrund seiner zusätzlichen Tätigkeit im Personalrat unterrichtet Jens Finger oft sogar sieben Stunden am Stück. Sieben Schulstunden ohne Freistunde: Was unter Schülern schon zu Klagen führt, stellt Lehrer vor gewaltige praktische Probleme. In Fünf-Minuten-Pausen hetzt Finger vom Klassenzimmer im Erdgeschoss hoch ins Lehrerzimmer, dann weiter ins Nebengebäude und in den dritten Stock. Gegen Mittag kommt er meist zum ersten Mal dazu, einen Schluck Wasser zu trinken – und steht in der siebten Stunde dann heiser und erschöpft vor 32 ebenfalls ausgelaugten Teenagern.

Ist der Unterricht für den Tag geschafft, herrscht noch lange nicht Ruhe. Helikoptereltern kreisen um ihre Kinder wie Motten um das Licht und dadurch auch um die Lehrer. Papa ist Anwalt: Diesen Satz kennt Finger nur zu gut, der als Personalrat häufig damit konfrontiert wird, wie nicht bestandene Prüfungen eine Klage der Eltern nach sich ziehen. Um das zu verhindern, hat das Landesbildungsministerium die vorgeschriebene Dokumentationspflicht erheblich verschärft. Telefonate, Elterngespräche, Fördermaßnahmen: Alles, was der Lehrer tut, bespricht oder an individuellen Lernplänen erstellt, soll dokumentiert werden. Wie intensiv diese Pflicht verfolgt wird, obliegt jeder einzelnen Schule. Doch um sich vor Klagen und Gerichtsverfahren zu schützen, wollen die meisten Schulen bestmöglich abgesichert sein. "Im Sekretariat stehen bei uns Reihen von Leitz-Ordnern mit Schülerakten", so Finger. "Und wenn ich heute Abend mit den Eltern von Max Müller telefoniere, trage ich das morgen früh in die Akte ein."

"Feierabend kenne ich nicht"

Abends klingelt das Telefon, es sind die Eltern

Dass das Telefon abends klingelt, ist die Regel, nicht die Ausnahme. "Manche Eltern wollen sich einfach erkundigen, wie es mit Max so läuft. Andere rufe ich selbst an, wenn mir zum Beispiel auffällt, dass jemand seit Wochen müde wirkt."

Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit per E-Mail oder Telefon? Dieses Managerphänomen kennt auch Gisela Betz-Klöpfer von ihren Lehrer-Patienten. Neben den strukturellen Problemen sieht Betz-Klöpfer aber auch die individuellen: Menschen, die aus den falschen Gründen Lehrer geworden sind, sich von Urlaub, Gehalt, Sicherheit und guter Vereinbarkeit von Beruf und Familie haben blenden lassen. Ein doppelter Fehlschluss. "Gerade diejenigen, die nicht zum Lehrer geboren sind, leiden unter dem Stress", sagt sie. "Das ist für die Lehrer selbst, aber auch für die Schüler fatal."

Wenn Lehrer wegen Burn-out ausfallen, verschärft das die Situation vor allem in Mangelfächern extrem. Bettina P. hat schon erlebt, dass schlichtweg nicht genügend Lehrer für den laut Lehrplan vorgesehenen Unterricht vorhanden waren. Dann wurde in manchen Klassen einfach eine Stunde Physik weniger unterrichtet, mit dem Versprechen, diese im nächsten Jahr nachzuholen. Da das Problem im nächsten Schuljahr allerdings weiterhin existiert, komme es dazu nie.

Immer mehr Aufgaben, immer mehr Erwartungen, immer mehr Belastung. Jens Finger sieht nur einen Ausweg: "Die wöchentliche Unterrichtszeit von Lehrern muss um mindestens zwei Stunden gesenkt werden." Die vier Wochen, in denen er seine Arbeitszeit protokolliert hat, haben für ihn bereits jetzt zu einer Erkenntnis geführt: "Wir arbeiten noch viel mehr, als wir gedacht hätten."

"Feierabend kenne ich nicht, ich könnte immer weitermachen."
Jens Finger

Ohne der Auswertung vorweggreifen zu wollen, rechnet auch Susanne Lin-Klitzing vom Deutschen Philologenverband mit einem solchen Ergebnis. Mithilfe dieser Studie hofft sie daher, den Landesverbänden Munition in die Hand geben zu können: "Wir wollen ihnen die Chance verschaffen, das Tableau von Belastungen aufzuzeigen, um gezielt für eine Verbesserung der Situation von Gymnasiallehrkräften gegenüber Kultus-, Finanz- und Innenministern einzutreten", erklärt sie.

Wie die meisten seiner Kollegen bereitet Finger am Wochenende den Unterricht für die nächste Woche vor. "Wenn ich dann nachmittags auf die Uhr geschaut habe, war es immer eine Stunde später als geplant." Überrascht war er beim Blick auf sein Protokoll dann auch, wie oft ihm abends vorm Fernseher einfiel: "Ach, du wolltest ja noch …" Wenn er sich am Schreibtisch nur kurz eine Notiz machen wollte, kam ihm der nächste Gedanke – und auf einmal war aus der kurzen Notiz eine halbe Stunde geworden.

Lehrer haben vormittags recht und nachmittags frei? Von wegen. "Feierabend kenne ich nicht", so Finger. "Ich könnte immer weitermachen, immer noch mehr arbeiten." Für ihn ist es weiterhin der schönste Beruf der Welt. "Aber selbst von dem muss man sich mal erholen – um sich dann wieder umso mehr darauf freuen zu können."