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Schüler und Vorurteile: Indianer oder Mann in Winterjacke?

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Training gegen Vorurteile Schülerscherze, die schmerzen

An einer Hamburger Schule lernen Jugendliche in Rollenspielen, respektvoller miteinander umzugehen. Das Training würde Schülern bundesweit guttun, doch dafür hat es das falsche Image.

Es nervt sie, dass Menschen ihre Namen oft falsch aussprechen. Dass sie Deniz, dessen Eltern aus der Türkei kommen, nicht einfach Dennis nennen. Dass sie in Nevas Namen das e langziehen, bis es wie Neeewa klingt und nicht mehr wie Näwa. Dass sie an Abdoul ein a hängen und ihn zu Abdullah machen.

Doch das ist nur eine Seite. Im Leben der Neuntklässler, die in einem Klassenzimmer der Stadtteilschule Öjendorf in Hamburg zusammensitzen, läuft in puncto interkulturelle Kommunikation noch mehr schief.

Sie nennen einander auf dem Schulhof "Kartoffel" oder "Dönerverkäufer", aber nur scherzhaft, sagt der 15-jährige Cyprian. Seine Familie stammt aus Polen. Wenn er Freunden von seiner Herkunft erzählt, gibt es welche, die sich gespielt erschrocken an die Tasche greifen und rufen: "Uh, wo ist mein Handy?"

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Schüler und Vorurteile: Indianer oder Mann in Winterjacke?

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Es sind Schülerscherze, wie sie täglich auf deutschen Pausenhöfen vorkommen. Cyprian und seine Mitschüler sollen lernen zu erkennen, dass Vorurteile darin stecken. Sie sollen lernen, respekt- und verständnisvoller miteinander umzugehen. Deshalb fällt an diesem Vormittag der reguläre Unterricht aus. Stattdessen sind angesetzt: fünf Stunden Interkulturelles Kompetenztraining, kurz IKK.

In Hamburg gibt es rund 240 Stadtteilschulen und Gymnasien. 50 von ihnen haben in den vergangenen Jahren einige ihrer Lehrer im Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung zu IKK-Trainern fortbilden lassen. Damit gehört Hamburg bundesweit zu den Vorreitern. Doch so regelmäßig wie die Stadtteilschule Öjendorf machen nur wenige Schulen ihre Kinder und Jugendlichen in interkultureller Kommunikation fit. Dabei wäre es dringend nötig.

Eine verhängnisvolle Bootsfahrt

Die Neuntklässler haben ihre Stühle zu einem Kreis zusammengeschoben und lauschen einer fiktiven Geschichte: Maria will bei Stefan sein. Doch die Brücke, die über den Fluss zu ihrem Liebsten führt, ist eingestürzt. Zum Glück hat Frank ein Boot. Er würde Maria auf die andere Seite fahren - wenn sie vorher mit ihm schläft.

Maria ist verzweifelt und fragt ihre Mutter um Rat. Doch die sagt: "Kind, es ist dein Leben." Maria schläft mit Frank, fährt zu Stefan, beichtet ihm alles. Stefan jagt Maria fort. Stefans Kumpel Mark tröstet Maria und haut Stefan danach eine rein.

"Wer hat richtig gehandelt?", fragt Lehrerin Ezel Babur. "Setzt euch in drei Gruppen zusammen und bringt die Namen in eine Reihenfolge."

Die einen finden, Maria habe richtig gehandelt, weil sie so sehnsüchtig zu Stefan wollte, Abdoul sieht das anders, Maria steht bei ihm auf dem letzten Platz. "Fuck ist Fuck", sagt er.

Die Schüler werden sich nicht einig, und das sollen sie auch nicht. Die Kinder sollen den Perspektivwechsel üben und verstehen lernen, was die Figuren in der Geschichte angetrieben haben könnte: Liebe, Vertrauen, Eifersucht, Eigennutz.

"Es ist das erste Mal, dass ich mit Freunden oder Lehrern über solche Sachen rede", sagt Cyprian, als es zur Pause klingelt.

"Man sollte sich mehr austauschen"

Die zweite Aufgabe hat es ebenfalls in sich: Ezel Babur teilt die Schüler in zwei Gruppen auf, die aus fiktiven Ländern stammen. Die "Handländer" berühren andere Menschen zur Begrüßung ausgiebig und lieben bunte und kringelige Formen. Die "Fußländer" scheuen Körperkontakt und mögen schwarze, gerade Linien.

Handländer und Fußländer sollen zusammen das Plakat für eine Party erstellen. Das endet fast in Streit. Die Handländer seien viel zu aufdringlich gewesen, beschweren sich die Fußländer. Sie hätten gleich den Körperkontakt gesucht - und offensiv nur bunte Kringel gemalt. Deniz, ein Fußländer, sitzt auf der Fensterbank und schmollt.

Lehrerin Babur schaltet sich ein: "Niemand von euch hat eben an diesem Tisch über seine Kultur gesprochen", erinnert sie die Schüler. Deniz schmollt nun nicht mehr. "Ich hatte aufgegeben und mich zurückgezogen", sagt er. Sein Fazit: "Man sollte sich mehr austauschen."

Ezel Babur

Ezel Babur

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Ezel Babur hat fast 150 Fortbildungsstunden in interkultureller Kommunikation absolviert, und sie könnte noch viel mehr, wenn sie mehr Zeit bekäme. Doch viele andere Themen und Fächer konkurrieren im Schulalltag mit dem IKK-Training. "Für die Neuntklässler ist an dieser Schule keine weitere Trainingseinheit vorgesehen", sagt Babur.

Das ist das eine Problem. Das andere: Interkulturelles Kompetenztraining hat - es steckt schon im Wort - hierzulande den Ruf, sich vor allem an Schulen zu richten, an denen viele verschiedene Kulturen vertreten sind. So haben denn auch die Hamburger Schulen, die ihre Lehrkräfte in diesem Bereich fortbilden lassen, meist einen hohen Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund.

Doch das sei zu kurz gedacht, sagt die Professorin Mechthild Gomolla, die seit Jahren zur interkulturellen Kommunikation forscht. "Es geht darum, eine unvoreingenommene Haltung zu entwickeln", sagt Gomolla. Auf Englisch heißt das IKK-Training deshalb auch "anti-bias training" - übersetzt: Training gegen Vorbehalte.

Wenn es aus der interkulturellen Nische herauskäme, könnte das IKK-Training helfen, bundesweit deutlich mehr Schüler darauf vorzubereiten, sich Vorurteilen und Diskriminierung entgegenzustellen. Ob ein Mensch anderen Sicht- und Lebensweisen gegenüber voreingenommen ist, hängt schließlich nicht von seiner Herkunft ab. Ebenso wenig erstrecken sich Vorbehalte nur auf kulturelle Unterschiede.

Bisher profitiert jedoch nur ein Bruchteil der elf Millionen Kinder und Jugendlichen an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen von einem solchen Training - und dieser Teil oft nicht genug. Dabei warnen Lehrer, Eltern und Experten immer wieder vor einem rüder werdenden Umgangston auf deutschen Schulhöfen, vor und Gewalt - so wie in Berlin, wo sich Ende Januar eine Grundschülerin mutmaßlich das Leben nahm.

Kurz vor Schluss in Hamburg, alle Neuntklässler sitzen wieder im Stuhlkreis zusammen. Sie sollen erzählen, wann sie sich in Schubladen gesteckt fühlten, in denen sie nicht sein wollten. "Viele denken, dass ich zu Hause ständig für die Schule lerne, aber das stimmt nicht", sagt Neva. Deniz sagt: "Wenn ich in einen Laden reingehe, schauen sie immer schief auf meine Tasche. Aber ich klau nix!"

Ezel Babur könnte dort anknüpfen. Sie könnte Deniz helfen, sich in die Perspektive eines Ladenbesitzers zu versetzen. Sie könnte ihm helfen zu verstehen, dass ihm seine Wahrnehmung womöglich einen Streich spielt und er wahrscheinlich nicht "immer" schief angeschaut wird. Sie könnte mit ihm erarbeiten, was er selbst tun könnte, damit es ihm besser geht.

Doch dann ertönt der Schulgong.