Susanne Walitza ist Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie -psychotherapie. Sie leitet die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich und hat mit Siebke Melfsen das Buch "Soziale Ängste und Schulangst" geschrieben.

ZEIT ONLINE: Experten sprechen von Schulangst. Sie verwenden den Begriff im Singular. Gibt es nicht eigentlich mehrere Gründe, warum jemand Angst vor der Schule haben kann?

Susanne Walitza: Das ist richtig. Es gibt nicht die Schulangst, sondern verschiedene solche Ängste: soziale Angst, Leistungs- oder Trennungsangst. Trennungsangst tritt schon im Kindergartenalter auf, wenn ein Kind sich nicht von den Eltern lösen kann. Übergeben es die Eltern morgens dort, reagiert das Kind trotzig oder weint. Es hat nicht nur Angst vor der neuen Umgebung, sondern auch, dass den Eltern etwas zustoßen könnte.

Trennungsangst tritt am häufigsten im Alter von sieben Jahren auf, also im Schulalter. Kinder ab etwa zehn Jahren und Jugendliche haben andere Ängste, etwa Leistungsangst. Sie fürchten, an sie gerichtete Erwartungen nicht zu erfüllen, also in Prüfungen oder bei Referaten zu versagen. Hier liegt die Quelle der Angst ausdrücklich in der Schule selbst. Aber auch das soziale Umfeld kann Angst verursachen – soziale Angst. Betroffene befürchten, sich vor anderen ungeschickt zu verhalten, sich lächerlich zu machen, gedemütigt oder überhaupt von anderen bewertet zu werden. In der Schule gibt es sehr viele Situationen, in denen das möglich ist.

ZEIT ONLINE: Kommen Schulängste plötzlich oder zeichnen sie sich ab?

Walitza: Dass Schulängste plötzlich entstehen, ist selten. In der Regel gibt es Anzeichen. Schulängstliche Kinder und Jugendliche beobachten sich einerseits sehr genau, sie stellen ihr Verhalten stets infrage. Wenn sie Fehler begehen, können sie sehr hart gegen sich sein. Andererseits trägt das Umfeld dazu bei, dass sich Schulängste entwickeln. Eltern, die dem Kind wenig Möglichkeiten lassen, die eigenen Ängste zu überwinden, tun ihm trotz guter Absichten nichts Gutes. Sie wollen das Kind schützen, aber sie verhindern, dass es an den eigenen Ängsten wachsen kann. Die Folge: Das Kind geht unbekannten oder ungewohnten Situationen aus dem Weg – zum Beispiel, indem es die Schule meidet.

ZEIT ONLINE: Noch einmal zur Veranlagung: Welche Persönlichkeitsmerkmale machen anfällig für Schulangst?

Walitza: Häufig steckt dahinter ein schüchternes Temperament. Natürlich reicht das allein nicht aus – nicht jede zurückhaltende Person entwickelt Schulängste. Kinder- und Jugendpsychiater konnten jedoch nachweisen, dass Menschen, die sich als schüchtern beschreiben, im Durchschnitt empfindlicher auf Angstreize reagieren.

ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielt zum Beispiel der Bildungsgrad der Eltern?

Walitza: Wie gebildet die Eltern sind, spielt nicht unbedingt eine Rolle. Aus der Forschung wissen wir jedoch, wie wichtig es ist, dass Eltern Probleme zügig erkennen und nach Lösungen suchen. Bei Ängsten ist das entscheidend: Wer bei den ersten Anzeichen eingreift, kann Schlimmeres verhindern.

ZEIT ONLINE: Wie können Eltern früh erkennen, dass ihr Kind eine Schulangst entwickelt hat?

Walitza: Schulängste äußern sich unterschiedlich. Manche Kinder klagen morgens über Bauchschmerzen und Übelkeit. Andere schreiben schlechte Noten, obwohl sie eigentlich gute Schüler sind. Oft ist Schulangst mit sozialem Rückzug verbunden: Kinder oder Jugendliche möchten das Haus nicht mehr verlassen, nicht zum Unterricht gehen, keine Gleichaltrigen mehr treffen. Häufig klagen sie über Schlafprobleme, bei einigen kehrt sich der Schlaf-Wach-Rhythmus um. Sie liegen nachts wach. Morgens schaffen sie es dann nicht, aufzustehen.

ZEIT ONLINE: Wie sollten Eltern dann reagieren?