Zu dir, zu mir, zu euch oder zu uns? – Seite 1

Wenn ich als Teenager herausfinden wollte, in wen von den süßen Jungs ich denn nun wirklich verknallt war, stellte ich mir immer eine Frage: Wenn ich zwei Wochen auf eine einsame Insel muss – wen würde ich mitnehmen? Nach einigem Tüfteln und diversen durchdachten Szenarien blieb meist nur ein Name übrig. Mein Herz war sich sicher: Er ist es.

An diesem Wochenende, lange nach meinen insularen Gedankenspielen von damals und vielleicht kurz vor einer bundesweiten Ausgangssperre, stellt sich eine ähnliche Frage. Zugegeben, mit weniger Pathos und Drama, aber doch ähnlich in ihrer emotionalen Kraft: Wenn ich für mehrere Wochen zu Hause bleiben muss – wen will ich um mich haben? Meine Freunde? Meinen Partner? Meine Eltern? Geschwister?

Am Freitag hat Bayerns Ministerpräsident Markus Söder die erste Ausgangssperre der Bundesrepublik verhängt. Am Sonntag werden Bund und Länder beraten, ob es nun auch  flächendeckende Ausgangssperren geben soll. Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) rief dazu auf, sich alle Maßnahmen zu Herzen zu nehmen und "abgesehen von der Kernfamilie möglichst alle sozialen Kontakte zu vermeiden". Wer also ist für mich diese "Kernfamilie"?

Die bisherigen Einschränkungen des sozialen Lebens zeigen: Eine Krise interessiert sich nicht dafür, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. So fühlt es sich also an, wenn man nicht auf sein komplettes soziales Netz zurückgreifen darf, sondern sich begrenzen muss. Wir müssen uns entscheiden, wem wir räumlich nah sein wollen, wem wir nah sein können, wem wir nah sein dürfen. Jetzt geht es darum, wer einander Safe Space, kleinste Einheit, engster Kreis sein möchte.

Und das ist gar nicht so leicht. Die Frage nach der Kernfamilie ist so kompliziert, wie es zwischenmenschliche Beziehungen auch sind.

Dieses Kernfamiliending

Die konservative Definition lautet: Zu einer Familie gehören mindestens zwei Generationen. Die Bezeichnung "Kernfamilie" wird für sogenannte Eltern-Kind-Einheiten verwendet. Sie ist die kleine Schwester der Großfamilie und erst seit den Fünfzigerjahren so richtig im Trend.

Immerhin sind wir heute schon so weit, dass Ehe, Zusammenleben und auch die biologische Verbundenheit keine ausschlaggebenden Kriterien mehr für Familie sind. Als Familien gelten auch Einelternfamilien, Stieffamilien, gleichgeschlechtliche Familien, Adoptivfamilien und Pflegefamilien. Soweit die klassische Definition.

Aber, wenigstens das ist ein Vorteil dieser Pandemie, manche gesellschaftlichen Regeln haben vorerst mal Pause. Und so kann man sich dieses Kernfamilien-Ding mal in der Realität ansehen.

"Ich dachte: Erst wenn man heiratet, gründet man eine Familie"

Die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim sagt: Die Kernfamilie ist eine Gefühlsgemeinschaft. Das klingt gut. Auch wenn in diesem Text künftig Kernfamilie steht, ist Gefühlsgemeinschaft gemeint.

Als Kind, aufgewachsen mit zwei Schwestern bei einem Vater und einer Mutter, dachte ich: Erst wenn man heiratet, gründet man eine eigene Familie. So wie aus meinen knallgelben Gummistiefeln von damals bin ich auch aus dieser Vorstellung herausgewachsen.

Heute lebe ich in Berlin, meine Eltern und Schwestern leben in Stuttgart. Ich wohne mit meinem Freund zusammen und wir sind ein Team. Mit meiner Familie führe ich eine Fernbeziehung. An das Kernfamiliending musste ich schon lange nicht mehr denken.
Doch in Zeiten von Corona hat sich das verändert.

Soll ich zu meinen Eltern zurück?

Die Frage habe ich auch meinen Freunden gestellt, man hat ja jetzt viel Zeit für lange Skypegespräche. In der echten Welt klingt die Suche nach der Gefühlsgemeinschaft derzeit so: WG oder Freund? Bleibe ich alleine oder suche ich mir Gesellschaft? Oder: Ich geh heim. Heim, wohin? Zu meinen Eltern.

Angesteckt von dieser Aufbruchstimmung fiel ich in ein ganz kindliches Gefühl zurück: schnell nach Hause zu Mama und Papa in die Alles-wird-gut-Höhle. Es ist erstaunlich, wie unveränderbar dieses Gefühl in meinem Bauch ist. Ich bin immer das Kind meiner Eltern, egal wie viele Kilometer Autobahn uns trennen. Mit einer Kollegin, die ein wenig älter ist als ich, sprach ich über dieses Gefühl. Es ist egal, wie alt jemand ist, man bleibt ein Leben lang das Kind. Irgendwie ist dieses Immer-Kind-Sein auch wie eine kleine Insel. Etwas, das sich nie verändert in einer Welt, die sich ständig erneuert, verbessert und um 180 Grad dreht.

Soll ich zu meinen Eltern zurück? Diese Frage stellen sich gerade viele. Jahrelange Abnabelungsprozesse, für manche leichter, für andere schmerzhafter, und dann kommt so ein Virus ums Eck und zack, zurück ins Nest?

So saß ich also in meinem Wohnzimmer, mindestens zehn Minuten beseelt von diesem Kind-Gefühl. Dann kam der Realismus.

Abgesehen davon, dass es in meinem Elternhaus zu wenig Platz gäbe, um dort für mehrere Wochen einzuziehen – will ich das wirklich? Vor vielen Jahren bin ich ausgezogen und seither kenne ich nur das leicht verklärte, stets romantische Gefühl, zu Besuch zu sein. Ein gemeinsamer Alltag ist eine ganz andere Liga.

Ich liebe es, wenn sich mein Vater bei meinem Besuch Sorgen um meine Augenringe macht und findet, ich müsste mehr Brokkoli essen. Und wenn meine Mutter mich fünfmal am Tag umarmt, weil sie das gerne tut. Aber jeden Tag? Das würde wohl zu einem Fürsorge-Overload führen.

"Ich möchte nur Eier mit Speck frühstücken, ultralaut Taylor Swift hören, unvernünftig viel rauchen "

Ich muss an die Teenager denken, die ich bei meinen abendlichen Spaziergängen durch Berlin in letzter Zeit sehe. Sie stehen vor ihren Häusern und telefonieren. Am ersten Tag dachte ich noch, was machen die da? Am zweiten wurde mir klar: Natürlich, wer hat schon Bock, mit seinem Lover zu telefonieren, während Mama daneben sitzt oder Papa noch gar nichts von der neuen Beziehung weiß?

Ciao Privatsphäre?

Kann ich nach Jahren der Selbstständigkeit auf meine Privatsphäre, meine Autonomie verzichten? Ich möchte nur Eier mit Speck frühstücken, intime Dinge am Telefon besprechen, abends in der Wanne Wein trinken, ultralaut Taylor Swift hören, unvernünftig viel rauchen – und seien wir ehrlich: All das macht keiner gern vor seinen Eltern.

Und dann ist da noch mein Freund. Nachdem das Kind in mir Pro und Contra zum Einzug bei meinen Eltern gesammelt hat, ist jetzt die Erwachsene in mir dran. Schnell wird klar: Ich bleibe hier. Ich will nicht ohne ihn sein, ich liebe unsere Wohnung, ich kann hier taylor-swiften und Eier essen, ich bin hier zu Hause. Er ist meine Gefühlsgemeinschaft. Kurz flüstert was in meinem Kopf: Aua. Aber dann ist es wieder okay. Corona hat mir wohl einen weiteren Abnabelungsmoment beschert.

Dass ich mir diese Frage überhaupt stellen kann, liegt daran, dass meine Eltern Anfang 50 und gesund sind. Doch wenn die Eltern älter sind, krank oder vorbelastet, tut sich ein schmerzhafter Widerspruch auf. Man will bei ihnen sein, darf es aber nicht. Und nicht nur Sicherheit, auch Ländergrenzen spielen eine Rolle. Jeder Vierte in Deutschland hat einen sogenannten Migrationshintergrund. Familien leben über Kontinente, Länder oder mindestens Städte verstreut. Zusammenzugehören, aber nicht beisammen sein zu dürfen oder zu können, ist ein Teil dieser Krise.

Wer zusammen sein darf und kann, aber noch nicht weiß, ob er das überhaupt will, hat es auf andere Weise schwer. Ich habe viele Paare im Freundeskreis, die noch nicht zusammenwohnen, manche davon führen eine Fernbeziehung. Alle fragen sich gerade: Zu mir oder zu dir – oder wollen wir bei einem Shutdown in Kauf nehmen, uns mehrere Wochen nicht zu sehen?

Zusammenziehen ist ein Heiratsantrag light

Neben den ganzen organisatorischen Überlegungen – "Wenn ich lange weg bin, verendet meine Monstera-Pflanze … aber du hast die größere Wohnung … ich habe mehr Klamotten, aber du das bequeme Bett" – ist die Frage nach dem Zusammenziehen wirklich kompliziert. Für manche ist Zusammenziehen wie ein Heiratsantrag light. Über diese Frage kann man gut und gerne Monate nachdenken, aber dafür bleibt gerade keine Zeit. Also, mit Highspeed: Wollen wir das? Was, wenn wir uns auf die Nerven gehen? Wenn einer doch wieder ausziehen will? Wenn es zu früh ist?

Wollen wir eine Kernfamilie sein? So eine Entscheidung birgt auch immer die Gefahr, verletzt zu werden. Wenn die eine Person will, die andere aber nicht. Oder eine Seite ganz plötzlich sagt: Lass mal, ich will doch nicht.

Die Single-Frage

Eine Bekannte von mir stellt sich eine ganz andere Frage. Ihr Endgegner ist die Einsamkeit. Sie ist Single und hat kein gutes Verhältnis zu ihren Eltern. Doch jetzt fragt sie sich: Ist schlechte Gesellschaft besser als keine Gesellschaft?

Eine andere Single-Freundin entschied sich, in ihrer WG zu bleiben. Die Freunde als Kernfamilie, Prio 1. Sie strahlt bei unserem Gespräch in ihre Webcam und sagt: "Meine Freunde sind meine Familie, ich bleibe hier." Sie nickt energisch und wirkt richtig euphorisch. Wir gegen den Rest der Welt. Und in diesen Zeiten: Wir gegen dieses Scheiß-Virus.

Wenn Menschen ihre Freunde als Familie bezeichnen, hört man oft ein belächelndes "Oh, wie süß" oder ein fieses "Die haben halt keine echte Familie". Viele wollen das nicht so richtig ernst nehmen, sehen darin eine verkappte Liebeserklärung an seine Freunde oder ein seltsames, kommunenartiges Bündnis. Doch eine Umfrage der Stiftung für Zukunftsfragen kam zu dem Schluss, dass 74 Prozent der Deutschen ihre Freunde als eine Art zweite Familie sehen.

Einen halben Tag nach unserem Gespräch schickt mir meine Freundin eine Nachricht auf WhatsApp: Zwei Mitbewohner seien zu ihren Freundinnen gezogen und die andere Mitbewohnerin habe ihren Freund in die WG geholt. Am Ende der Nachricht hängt ein Emoji, der die Augen verdreht.

"Wir alle müssen uns entscheiden, und zwar vielleicht schon heute Nacht"

Ein Freund lacht, als ich ihn nach seiner Kernfamilie frage. Er ist ein Patchwork-Papa und kennt sich mit verschiedenen Kernen in einer Familie ganz gut aus. Für ihn ist die Frage nach dem Wohnen in Zeiten der potenziellen Ausgangssperre etwas komplizierter. Mehr Parteien, mehr Bedürfnisse. Er ist sich nicht sicher, ob die über Monate mühsam ausgetüftelte 50/50-Regelung noch aufrechterhalten werden kann, sollte die Ausgangssperre kommen. Was bedeutet das für sein Umgangsrecht? Wo bleiben die Kinder, wenn es nicht gerichtlich geregelt ist?

Er und die Mutter seiner Kinder überlegen jetzt, ob er wieder einziehen soll. Zumindest für die nächsten Monate. Der Freund der Mutter findet das so mittel, die Kinder oberklasse, seine eigene Freundin ist sauer.

Für viele Patchwork-Familien und Alleinerziehende fühlt sich diese Zeit wohl an wie ein Schachspiel, jeder Zug hat Konsequenzen und wenn man nicht vorbereitet ist, kann so ein Spiel verdammt zäh sein.

Es ist kompliziert. Viel komplizierter als mein kleines Inselspiel als Teenager. Egal, ob als Paar, als Kind, als Single, als Eltern, als Freunde – wir alle müssen uns entscheiden, und zwar vielleicht schon heute Nacht.

Vielleicht hilft es, sich zu sagen: Kernfamilie bedeutet Menschen, die sich schützen und stützen und füreinander da sind. Die sich Tee kochen, einander Fieber messen, zusammen krank werden, sich gegenseitig pflegen und eine Krankheit überstehen. Und in Zeiten einer möglichen Ausgangssperre bedeutet es eben auch: zusammen in vier oder mehr Wänden sein. Und die Angst davor, sich zu sehr auf die Nerven zu gehen, ist sowieso unbegründet: Kernfamilie bedeutet auch, dass man sich streiten muss. Kernfamilie bedeutet Menschen mit anderer Meinung und schrägen Ideen, mit seltsamem Humor und blöden Ticks. Ich sag nur: Taylor Swift.