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Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)

Selbstbestimmt Wir

Beschluss des 34. LSVD-Verbandstags am 24. April 2022

Selbstbestimmung ist zentrale Voraussetzung für ein Leben in Freiheit und Würde. Selbstbestimmung ist nicht denkbar ohne Demokratie, ohne Rechtsstaat, ohne Meinungsfreiheit, aber auch nicht ohne wirksamen Schutz vor Hass und Hetze.

Selbstbestimmt Wir

Selbstbestimmung ist zentrale Voraussetzung für ein Leben in Freiheit und Würde. Selbstbestimmung ist nicht denkbar ohne Demokratie, ohne Rechtsstaat, ohne Meinungsfreiheit, aber auch nicht ohne wirksamen Schutz vor Hass und Hetze.

Der verbrecherische und unvorstellbar brutale Angriffskrieg von Putins Russland auf die Ukraine steht für eine epochale Auseinandersetzung zwischen Demokratie und autoritären Regimen, die nichts so sehr fürchten wie Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen. Wir solidarisieren uns mit dem Freiheitskampf der Menschen in der Ukraine. Wir unterstützen alle Bemühungen der demokratischen Staaten, der autoritären Aggression Einhalt zu gebieten. Wir engagieren uns für Menschen, die vor dem Angriffskrieg geflohen sind und bei uns Schutz suchen.

Demokratie ist für die Selbstbestimmungsrechte queerer Menschen kein Selbstläufer. Vieles musste hart erkämpft, vieles muss noch verbessert werden. Aber sie ist der Rahmen, in der das überhaupt möglich ist. Im Westen melden sich nun schon wieder konservative Stimmen, die verkünden, Fragen wie Gendergerechtigkeit, Minderheitenschutz und Respekt für Vielfalt seien unnötiger Luxus. Nichts könnte falscher sein. Jetzt erst recht, muss die Parole lauten. Putin bezeichnet seinen verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine auch als einen Kampf gegen westliche „Entartung“ und Werte, die angeblich „gegen die menschliche Natur selbst gerichtet sind“.

Die Demokratie wird die epochale Auseinandersetzung am besten bestehen, wenn sie möglichst viele Menschen für ihre Werte der Freiheit und Selbstbestimmung gewinnt, wenn sie dafür sorgt, dass ihre Gesellschaften noch inklusiver werden und diese Werte auch im staatlichen Handeln jederzeit zum Tragen kommen und damit von allen gelebt werden können.

Vier Projekte für mehr Selbstbestimmung für Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans*- und intergeschlechtliche Menschen (LSBTI) stellt der LSVD für 2022 in den Mittelpunkt:

Selbstbestimmt Wir: Selbstbestimmungsgesetz statt Schikanen und transfeindliche Panikmache

Trans*- und intergeschlechtlichen sowie nichtbinären Menschen wird in Deutschland Selbstbestimmung immer noch massiv erschwert. In einer demokratischen Gesellschaft muss Grundlage staatlichen Handelns der Schutz der persönlichen Freiheit sein und nicht ideologisch aufgeladene Ordnungsvorstellungen über Geschlechtszugehörigkeit. Der LSVD wendet sich entschieden gegen Angstkampagnen, die Trans*Menschen als Feindbilder und Gefahr für die Gesellschaft phantasieren. Der LSVD sieht im Kampf um Selbstbestimmung für nichtbinäre, trans*- und intergeschlechtliche Menschen die konsequente Fortsetzung feministischer, emanzipatorischer und der Freiheit verpflichteter bürgerrechtlicher Politik. Deshalb setzen wir uns mit Nachdruck für ein echtes Selbstbestimmungsgesetz ein. Das ist seit Jahrzehnten überfällig. Die Verwirklichung der Menschenrechte für nichtbinäre, trans*- und intergeschlechtliche Menschen duldet keinen Aufschub mehr.

Selbstbestimmt Wir: Katholische Kirche muss tätige Reue üben

Es darf keine Räume geben, in denen Diskriminierungsschutz nicht gilt. Insbesondere die Katholische Kirche hat in ihren Einrichtungen ein Klima der Angst, Einschüchterung und Zwang zur Lüge für queere Beschäftigte etabliert. Wir begrüßen, dass nun auch in der Katholischen Kirche in Deutschland einiges in Bewegung gekommen ist. Bei den in Aussicht gestellten Reformen im kirchlichen Arbeitsrecht darf es aber keine halben Sachen mehr geben. Versprechungen reichen nicht. Es braucht für LSBTI, die in kirchlichen Einrichtungen beschäftigt sind oder sich dort bewerben wollen, echte Rechtssicherheit. Deshalb müssen auch die Ausnahmeregelungen für Religionsgemeinschaften und deren Einrichtungen im staatlichen Arbeitsrecht aufgehoben werden, insbesondere bei der angekündigten Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG).

Nicht nur gegenüber ihren Beschäftigten, sondern auch durch ihren hartnäckigen jahrzehntelangen Widerstand gegen jede Verbesserung der Selbstbestimmungsrechte queerer Menschen hat die Katholische Kirche schwere Schuld auf sich geladen. Für all das Leid, das sie generationenlang queeren Menschen, ihren Angehörigen und Freund*innen angetan haben, erwarten wir nicht nur ein Schuldanerkenntnis der deutschen Bischöfe, sondern auch tätige Reue: die Akzeptanz und Unterstützung staatlicher Gesetzgebung, die Freiheit und Selbstbestimmung queerer Menschen umfassend rechtlich verbrieft, auch im Grundgesetz, und einen engagierten Einsatz für die Menschenrechte von LSBTI in der Weltkirche.

Selbstbestimmt wir: Schutz und faire Verfahren für queere Geflüchtete

In vielen Staaten ist die Menschenrechtssituation für LSBTI grausam. Einige wenige schaffen es, vor Unterdrückung, Gewalt, Folter und Todesdrohung zu uns flüchten. Sie vertrauen auf das Versprechen westlicher Demokratien, für Selbstbestimmung und ein menschenwürdiges Leben einzutreten, und werden in vielen Fällen bitter enttäuscht. Dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) scheint es oftmals weiterhin ein großes Anliegen zu sein, LSBTI in Verfolgerstaaten abschieben zu können. Die Ampel-Bundesregierung muss dem endlich Einhalt gebieten und für faire, rechtskonforme Asylentscheidungen Sorge tragen.

Prognoseentscheidungen über das Verhalten queerer Schutzsuchender im Heimatland oder die Aufforderung, sich dort „diskret“ zu verhalten, sind unzulässig und verstoßen gegen die bereits seit 2013 bestehende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Es ist allein das Selbstbestimmungsrecht queerer Menschen, zu entscheiden, wie offen sie mit ihrer Identität umgehen wollen. Auch die Aufnahme queerer Menschen aus Afghanistan, die auf westliche Werte vertraut haben, muss energisch vorangetrieben werden.

Selbstbestimmt Wir: für ein effektives Demokratiefördergesetz und einen wirksamen Aktionsplan

Die offene Gesellschaft braucht offensive Vorwärtsverteidigung, ein ständiges Bemühen, Menschen für eine Kultur des Respekts zu gewinnen. Für ein effektives Demokratiefördergesetz brauchen wir: Empowerment, die Förderung von intersektional arbeitenden Projekten und Beratungsangeboten, die Absicherung von bestehenden, erfolgreich arbeitenden Strukturen zur Förderung von Demokratie und Akzeptanz von vielfältigen Lebensweisen und Identitäten sowie ein gemeinsames Handeln von Staat und Zivilgesellschaft. Demokratieförderung, Vielfaltsgestaltung und Extremismusprävention benötigen Nachhaltigkeit.

Von wesentlicher Bedeutung sind Maßnahmen zur Bekämpfung von Hasskriminalität, die auch Hass und Hetze gegen LSBTI sowie queerfeindlicher Hassgewalt angemessen und sichtbar entgegenwirken. Auch muss das kommende Demokratiefördergesetz gut mit dem angekündigten Nationalen Aktionsplan für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt verzahnt werden. Wenn dies gelingt, werden stabilere Fundamente für ein Leben in Selbstbestimmung gelegt, ebenso für die Sicherheit, in Freiheit zu leben.

(beschlossen auf dem 34. LSVD-Verbandstag am 24. April 2022)

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